Vom Kaspar zum Kasperle

Das Schauspiel innerhalb der Kirchen, vor allem das Krippenspiel und das Dreikönigsspiel, begann im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert Elemente aufzunehmen, die sich nicht biblisch oder legendarisch begründen ließen, aber als komische Einlagen hohe Unterhaltungsqualitäten hatten. Der eigentlich zu vermittelnde Stoff dagegen geriet in den Hintergrund. Das über 200 Jahre alte Kölner Hänneschen-Theater, das rheinische Nonplusultra in Sachen Stockpuppen, kennt kein Kasperle. Hier dominiert das Hänneschen. Dass die Hansfigur „Hänneschen“ heißt und eben nicht Fränzchen oder Aloischen hat seinen Grund darin, dass Johannes oder Hans vom 14. bis 17. Jahrhundert der häufigste Jungenname war. Entsprechend viele Wortverbindungen gibt es mit Hans, die auf ein Phänomen aufmerksam machen wollen, z. B. Schmalhans, Hans-Dampf, Faselhannes, Plapperhannes, Prahlhans usw.. „Dat kölsche Hännesche“, natürlich nie ohne „dat Bärbelche“, garantiert dem Kölner Theater im zweiten Jahrzehnt ein permanent ausverkauftes Haus.

Zwischen Aufklärung und Romantik, Französischer Revolution und preußischer Besetzung, vor dem Hintergrund sozialer und politischer Umwälzungen, im Prozess der Umwandlung von dörflicher Idylle zur städtischen Industriegesellschaft treten Typen und eine wechselnde Zahl von Konflikten auf, in denen sich jeder Zuschauer wiederfinden kann. Und so sehr auch die geltende Ordnung auf den Kopf gestellt wird – am Ende siegt immer das Gute, ist das soziale System immer ein sicheres Auffangnetz. Mit zuckersüßer Chuzpe, kreativer Subversivität oder frecher Unverschämtheit werden die Bugfiguren französischer oder preußischer Besatzung „entschärft“ und – wenn schon nicht integriert – wenigstens neutralisiert. Auch in Köln sind eben jene Fremden die besten, die „von hier“ kommen.
Das Hänneschen-Milieu spiegelt rheinische Spießermentalität und hinterfragt sie zugleich. Es bleibt immer eine unerfüllte, tiefe Sehnsucht nach dem Mehr als Alles und ein selbstverliebtes melancholisches Leiden am Sosein des Daseins. Hier hat jede Katastrophe immer auch komödiantische Züge. Tragödien, über die man nicht auch lachen kann, sind eben nicht rheinisch. In ebendiesem Sinne ist Köln die nördlichste Stadt Italiens. Beweist die Gegenwart diesen Grundsatz nicht immer wieder?

Die Wurzeln des Puppentheaters


Was in Köln das Hänneschen-Theater bietet, wird gern verglichen mit dem, was anderswo Kasperle-Theater heißt. Wie haben sich diese Puppentheater entwickelt? Drei Wurzeln haben sie in der Regel: das Krippen- und Mysterienspiel, das Volksschauspiel und die Commedia dell’Arte.

Das geistliche Spiel von realen maskierten Personen oder mit Puppen zu kirchlichen Festen wie zur Advents- und Weihnachtszeit mit profanen und sogar komödiantischen Einlagen bestand bis Ende des 18. Jahrhunderts insbesondere in Österreich, Polen und Frankreich. Auch wenn beim Hänneschen-Theater die religiösen Stoffe hinwegsäkularisiert sind und der kirchliche Vorhof als Aufführungsort sowie die Festtermine als Veranstaltungszeitpunkte fortgefallen sind: Die handelnde komödiantische Hauptfigur, der „Hanswurst“ – alias u. a. Jean Potage, Jack Pudding, Maccaroni, Pickelhering in anderen Ländern – wird von einer Beigabe zur Hauptperson, wandelt aber seinen Charakter. Den geistlichen Urgrund dieses Theaters merkt man nicht nur an den nach wie vor präsenten Bezeichnungen vom „Krippenspiel“ oder dem „Kreppe-Hänneschen“. Der dreiteilige Bühnenaufbau des Hänneschen-Theaters entspricht exakt dem Steyrer Krippenspiel, von dem es der Gründer des Stockpuppentheaters, J. Ch. Winters, übernommen hatte. Auch das Vorkommen von Hänneschen und Bärbelchen in Kölner Kirchenkrippen zur Weihnachtszeit ist ein Hinweis auf die alten Wurzeln.

Die zweite Wurzel ist das Volksschauspiel, das durch den Übergang vom geistlichen Spiel zum Volksschauspiel entstand. Seinen Mittelpunkt bilden jene „archaisierenden Figuren“ (Günter Böhmer), die vor der Säkularisierung in Krippen- und Mysterien-spielen und bei geistlichen Aufzügen auftraten und durch oft derbe Faxen und nicht immer jugendfreie Possen das Publikum erheiterten. Der Fortfall des geistlichen Handlungsstoffes bot nun die Möglichkeit, auch das Unsägliche zu sagen. Das Ungesagte, das Nie-Gesagte, das Unsagbare und das Unsägliche sind die Stoffe, aus dem das Volksschauspiel lustvoll und lebensprall lebt.

Die dritte Wurzel ist die Commedia dell’Arte, die im 18. Jahrhundert noch fröhliche Urstände auch in Köln feierte. In Rückbesinnung auf diese Spielform rekrutierte das Hänneschen-Theater den Typenkanon ebenso wie die Improvisationskunst. Die Kölner Eigenleistung bestand in der Inkulturation der Typen in ein kölnisches Handlungsfeld. So entstanden unverwechselbare Kölner Gewächse. Parallele Typen kann man im Antwerpener „Poesjenellen Kelder“ finden, wo „De Neus“ mit markant großer roter Nase und einfältigem Wesen ebenso vertreten ist wie „De Schele“, der schielt und zusätzlich so schön stottert, wie es der „Speimanes“ später in Köln kultiviert.

Erkennbar an der Mütze


Was den Kölnern ihr Hänneschen, war anderen ihr Kaspar, dessen Akzeptanz sich in der einvernehmenden Kuschelformulierung „Kasperle“ ausdrückt. In vielen Gegenden des deutschsprachigen Raumes blieb er der für das Gute kämpfende Held der Kinder, ob er denn gegen Krokodile oder den Teufel kämpft – er ist immer der Sieger, auch wenn es einmal nicht danach aussieht. Die dreikönigliche Herkunft des ins Komische gekehrten Königs Kaspar als Kasperle aber kann man nur noch manchmal feststellen, wenn sein Handeln pseudoreligiös begründet wird, wenn die Figur keine eheliche Bindung eingeht und – wenn man auf die Mütze schaut. Aus der phrygischen Mütze der Magier ist eine Plümmelmütze geworden, ohne die kein Kaspar ein Kaspar ist. Und in Erinnerung an die bei der phrygischen Mütze nach vorn gerichtete Spitze hängt der Plümmel der Kasparmütze nicht nach hinten, sondern nach vorn. An ihren Mützen werdet ihr sie erkennen: Ob Kasperle oder Weihnachtsmann, ihre Kopfbedeckung deckt die Herkunft auf.

Vielleicht liefert die Herkunft des Hänneschen aus dem Krippenspiel auch den Grund dafür, dass er immer integriert: Auch wenn die Bösen als die Bösen entlarvt werden – sie werden nicht aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Dahinter steht die – kluge oder schon weise zu nennende – Erkenntnis, dass die Guten nie nur gut und die Bösen nie nur böse sind. Ob Kasperle oder Hänneschen: Die regional verorteten exemplarischen Charaktere eignen sich nicht zum Klassenkampf oder zur ständischen Revolte gegen „die da oben“. Die Handlungen leben vom Psychogramm menschlicher Interaktivität: Kinder und Erwachsene, Städter und Dörfler, Trieb- und Kulturmensch, Buch- und Kopfmensch. Wir selbst finden uns in diesen Typen und ihren Konflikten wieder – und das nicht nur in den vermeintlich guten. Wenn sonst nichts vom geistlichen Spiel erhalten geblieben wäre: Hinter der „Britz“ finden sich eben nicht bloß Hohlköpfe und Holzköpfe. Dass der Mensch das Gute, das Schöne, die Wahrheit will und auf dem Weg dahin oft an sich selbst scheitert, bleibt ein gemeinsames Grundmuster von geistlichem Spiel und Volksbühne.

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